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Die jüdische Gemeinde in Bolivien – deutsch, aber nicht Teil der deutschen Kulturgemeinde
von Alicia Caballero, Camila Pasten und Fabiana Aneiva

Ricardo Udler ist Sprecher der jüdischen Gemeinde Boliviens und Präsident des Círculo Israelita in La Paz. Er ist Sohn eines argentinischen Vaters russischer Herkunft und einer französisch-jüdischen Mutter, die den Holocaust überlebt hat. Seine Mutter floh vor dem Nationalsozialismus in Europa und kam in der Nachkriegszeit in Bolivien an. In dem Interview erzählte uns Herr Udler über die jüdische Gemeinde Boliviens, die derzeit aus drei Gemeinden besteht, eine in La Paz mit 160 Mitgliedern, eine in Santa Cruz mit 250 Mitgliedern und eine dritte in Cochabamba mit 60 Mitgliedern. In den 1930er und 1950er Jahren hatte diese Gemeinschaft viel mehr Mitglieder. Offiziellen Angaben zufolge schwankte die jüdische Gemeinde in Bolivien zwischen den 30er und 50er Jahren zwischen 15.000 und 18.000 Mitgliedern. Die Migration war jedoch viel höher und unkalkulierbar, da Bolivien seit der Vorkriegszeit sowie während und nach dem Weltkrieg die Möglichkeit der Visumserteilung bot. Zu diesem Zeitpunkt wird Bolivien, um den Historiker Robert Brockmann zu zitieren, “ein Hotel”. Diese Gelegenheit war für die jüdische Migration sehr hilfreich, da Bolivien als Brücke zu anderen Grenz- und Interessensländern diente.

Die erste Migrationswelle, zu der es in der Vorkriegszeit (1932-1936) kam, war ausschließlich von deutschen Juden geprägt. Die zweite Welle (1937-1939) war größer, da mehr jüdische Familien die Notwendigkeit sahen, den wachsenden Problemen in Europa, dem Krieg und der Verfolgung zu entkommen. Die dritte Migrationswelle, während des Krieges und der Nachkriegszeit, war eine Welle aus ganz Europa, die im Allgemeinen von jüdischen Körperschaften im Ausland gefördert wurde. Nach dem Krieg kam es zahlenmäßig allmählich zum Niedergang der jüdischen Gemeinde in Bolivien. Dies ist darauf zurückzuführen, dass viele von ihnen nur mit einem Landwirtschaftsvisum eingereist waren, so dass sie nur in diesem Bereich arbeiten durften und ihren eigentlichen Beruf nicht ausüben konnten. Die Anpassung erwies sich als schwierig. Immer mehr Einwanderer entschieden sich dafür, neue Möglichkeiten außerhalb des Landes zu suchen. Im Jahr 1955 hatte die jüdische Gemeinde noch zwischen 1500 und 2500 Mitglieder, eine Zahl, die viel kleiner war, als zu Beginn, und die im Laufe der Jahre abnehmen würde. Darüber hinaus begannen all jene jüngeren Juden, die in Bolivien aufwuchsen, ihr Studium abzuschließen, das Land zu verlassen und blieben schließlich im Ausland. Wenn man die jüdische und die deutsche Einwanderung nach Bolivien vergleicht, kann man sagen, dass die ersteren ankamen und beschlossen, “ihre Koffer nicht auszupacken”, weil sie das Gefühl hatten, dass sie irgendwann wieder auswandern müssten, während die letzteren mit der Idee kamen, zu bleiben.

Auf diese Weise spielte Bolivien eine sehr wichtige Rolle bei der Migration in den 1930er und 1940er Jahren, da es eines der wenigen Länder war, das seine Türen offen hielt und eine hohe Zahl von Flüchtlingen aufnahm. Bolivien bot ihnen nicht nur eine Fluchtmöglichkeit und Sicherheit, sondern auch neue Möglichkeiten und Chancen, sich ein neues Leben abseits des damaligen Antisemitismus zu schaffen. Trotz des guten Verhältnisses zu Deutschland und der Affinität zum militärischen Nationalsozialismus öffnete die Regierung des Landes ihre Türen weit, unabhängig von Religion und Nationalität.

Andererseits berichtete Herr Udler auch über das Verhältnis zwischen Bolivien und Deutschland im Allgemeinen. Bolivien hatte immer und hat auch heute noch sehr gute Beziehungen zu Deutschland. Erwähnenswert ist, dass es bolivianische Regierungen gab, wie die von Germán Busch, die sich dem Nationalsozialismus verbunden fühlten, was die hauptsächlich von deutschen und polnischen Juden geführten Migration nicht behinderte. Doch nicht nur Juden wanderten ins Land ein, sondern später auch mehrere Anhänger des Nationalsozialismus, einige von ihnen engagierten sich sogar in der bolivianischen Politik, wie Klaus Barbie, der Regierungsberater und Polizei- sowie Militärausbilder wurde.

Die Juden, die nach Bolivien kamen oder in andere Länder emigrierten, wollten nichts mehr von Deutschland wissen und haben sich von den bestehenden deutschen Kulturgemeinden, die recht nationalistisch oder sogar nationalsozialistisch eingestellt waren, wie man an der „Reichsdeutschen Gemeinde“ in La Paz gut sehen konnte, und auch der Deutschen Schule, die ebenfalls nationalsozialistisch ausgerichtet war, abgegrenzt.

Aus diesem Grund wurde das Colegio Israelita gegründet, damit alle jüdischen Kinder die Möglichkeit hatten, außerhalb der Deutschen Schule zu lernen und eine gute Ausbildung zu erhalten. Obwohl es in der Vorkriegszeit noch jüdische Schüler in der Deutschen Schule gab, änderte sich dies ab 1939, wie man in der Schulstatistik sehen kann und wahrscheinlich auch aufgrund der ideologischen Vorgaben aus Deutschland. So musste zum Beispiel an der DS La Paz auch Rassekundeunterricht gegeben werden.

Bald bildeten beide Schulen und beide deutschen Gruppen getrennte Gemeinschaften. So wurde 1935-39 der Israelitische Kreis gegründet, dessen Jüdische Gemeinde keine Beziehung zum Deutschen Club oder einer deutschen Institution hatte. Außerdem zog es diese Gemeinschaft vor, eine solche Beziehung wegen der Sensibilität der Situation zu vermeiden. Diese Situation änderte sich erst wieder in den 80er Jahren, als die ersten jüdischen Familien anfingen, wie die Familie Wiener, ihre Kinder wieder auf die Deutsche Schule zu schicken. Heute gibt es zwei jüdische Schüler an der Deutschen Schule, aber viele mit jüdischen Vorfahren, was von der Statistik jedoch leider nicht erfasst wird.

Visa für die Arbeit in der Landwirtschaft erleichterten den Juden die Einreise in das Land. Sie wurden in Bolivien gut aufgenommen, zudem hatten sie die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln und kleine Unternehmen zu gründen, wie zum Beispiel die erste Eisdiele in Sucre oder die erste kleine Hemdenfabrik. Herr Udler sagte uns auch, dass sie – wie er selbst – keine Opfer des Antisemitismus in Bolivien waren. Aber natürlich gab es einen deutlichen Kontrast zwischen der jüdischen und der bolivianischen Kultur, wie im Bereich der Gastronomie oder des Transports, der damals mit Pferden und Maultieren stattfand. Auch wenn ein deutsch-jüdischer Einwanderer in Deutschland Koch war, erhielt er ein Bauernvisum für Bolivien und musste zunächst in diesen Beruf arbeiten. Aus diesem Grund war es für sie etwas schwierig, sich an die bolivianische Kultur anzupassen.

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siehe hier das Interview mit Herrn Udler in voller Länge (54 Min.; span.)